Samstag, April 20

Anarchismus in Thüringen: Ausstellungsbesuch im Erfurter Naturfreundehaus

Die Infotafel zeigt eine bunte Übersicht von Büchern des anarchistischen Literaten Erich Mühsam. Bild: Landesverband Naturfreunde Thüringen e.V.

Erfurt. Seit vergangenem Sonntag ist im Naturfreundehaus in der Johannesstraße eine neue Ausstellung zu sehen, die unter dem Motto Erich Mühsams, „Sich fügen heißt lügen“, die Geschichte der anarchistischen Gewerkschaftsbewegung in Thüringen und ihrer berühmtesten Stätte, der Bakuninhütte in Meiningen, nachzeichnet. Die Inhalte gehen auf zwei vergangene Fachtagungen in Meiningen und Gotha sowie auf unabhängige Recherchen aus dem Kreis des Wandervereins Bakuninhütte e.V. zurück. Bis einschließlich Januar 2021 werden die Infotafeln in den Räumlichkeiten der Naturfreunde Thüringen hängen; danach sollen sie für andere interessierte Gruppen und Institutionen als Wanderausstellung zur Verfügung stehen.

Einführungen in das anarchistische Denken und Wirken der letzten Jahrhunderte nehmen häufig die Form einer Klarstellung an: Nein, hier geht es nicht um zwielichtige Gestalten, die Attentatspläne schmieden, nicht darum, die Welt brennen sehen zu wollen, um auf deren Asche ein neues Regime zu errichten; es geht um Freiheit, Gleichheit, Humanität und die Versuche, sie in Einklang zu bringen. Die Ausstellung kennt diese duckmäuserische Gestik nicht; sie will einfach nur aufklären, Neugier wecken, dokumentieren.

So viel vorab: Der Titel „Erich Mühsam und die Bakuninhütte“ ist etwas missverständlich. Die Aufenthalte des berüchtigten anarchistischen Dichters in Meiningen stehen nicht im Mittelpunkt der Ausstellung; einen besonderen Platz nimmt stattdessen die Geschichte der Bakuninhütte selbst ein, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Selbstversorgungs- und Zufluchtsort syndikalistischer Arbeiter*innenjugend diente und zunächst in der NS-Zeit, dann erneut in der DDR um den freien Geist beraubt wurde, den sie einst atmete. Auch wenn es hier also für Mühsam-Fans wenig zu sehen gibt (das kann bei einer Lesung der Falken Erfurt im November nachgeholt werden), liefert der Kampf um die Wiederbelebung der Hütte genug Stoff, um das tragische Schicksal des deutschen Anarchismus im letzten Jahrhundert in der Gestalt dieses architektonischen Denkmals greifbar zu machen.

Die mangels authentischer Exponate zwar sehr bescheidene, dafür aber gründlich recherchierte Ausstellung hätte man also gar nicht mit dem Namen dieses prominenten Besuchers und enfant terrible der deutschen Arbeiter*innenbewegung schmücken müssen. Das Motto „Sich fügen heißt lügen“ passt jedoch in Anbetracht des stürmischen Werdegangs der Hütte wie die Faust aufs Auge.

Die Ausstellung ist in fünf Teile gegliedert. Der erste gibt eine Einführung in die Ideengeschichte des Anarchismus mit biografischen Abrissen unter anderem seiner beiden großen russischen Vorbilder: Michail Bakunin, Namensgeber der Meininger Pilgerstätte und Widersacher von Karl Marx in der Ersten Internationale, und Petr Kropotkin, der die kommunistische Strömung des Anarchismus im 20. Jahrhundert nachhaltig prägte. Außerdem werden die Beiträge Rudolf Rockers und Gustav Landauers zur anarchistischen Theorie gewürdigt und die deutschen Organisationen des Anarchosyndikalismus vorgestellt. Nur wenige, wie die Freie Arbeiter*innenunion Deutschlands (FAUD), konnten sich im Nachgang zum Faschismus erneut etablieren, weshalb sie in einer ohnehin auf den Marxismus fokussierten Geschichtsschreibung über die Arbeiter*innenbewegung heute weitgehend vergessen sind.

Der knappe zweite Teil der Ausstellung widmet sich der Vita Erich Mühsams und seinen dokumentierten Aufenthalten in der Bakuninhütte; im dritten Teil geht es wieder allgemeingeschichtlich um lebensreformerische Bewegungen, die in der Weimarer Zeit Einzug in die Kur-Kultur des Hauses fanden. Die interessantesten Informationen aber sind die Früchte der Archivarbeit der Aussteller*innen, der vierte Teil der Ausstellung über Bau und Gebrauch der Hütte vor dem Faschismus sowie der fünfte, der ab dem Jahr 1933 ansetzt. Die Erlebnisse der Arbeiter*innen und Vagabunden während des Faschismus werden anhand von Einzelschicksalen verdeutlicht. Ein Denunziantenschreiben aus der NS-Zeit dokumentiert, wie die Bakuninhütte in den Nexus der Macht geriet und von ihren freiheitlich-sozialistischen Wurzeln entfremdet unter der SS weiterexistierte.

Wer sich für Thüringer Regionalhistorie und die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung begeistern kann, dem sei die kurzweilige Ausstellung empfohlen. Auch eignet sie sich gut für Studierende, um den Museumstag bei Elternbesuch mit etwas Anarchismus aufzupeppen. Literaturinteressierte können hier derweil nur Hintergrundwissen gewinnen. Ein paar mehr Mühsam-Gedichte in die Tafeln aufzunehmen, hätte – schon allein um des Unterhaltungswerts willen – keineswegs geschadet, zumal das Nachleben dieser Texte im Stalinismus einige Parallelen mit dem der Bakuninhütte aufweist.

So oder so wünscht man sich, dass dem Anarchismus des 20. Jahrhunderts im kollektiven Erinnern mehr Platz eingeräumt wird. Dafür braucht er vor allem eines: Sichtbarkeit. Mit einer Wanderausstellung ist damit schon ein wichtiger Schritt getan. Nächster Halt: Goethe-Galerie?

(pj)

Die Ausstellung „Sich fügen heißt lügen – Erich Mühsam und die Bakuninhütte“ ist bis Januar 2021 wochentags von 10 bis 16 Uhr und zu Sonderveranstaltungen im Naturfreundehaus Charlotte Eisenblätter in der Johannesstraße 127 (Erfurt) zu sehen. Mehr Informationen gibt es hier. Folgende Veranstaltungen werden im Rahmen der Ausstellung angeboten:

Die Internationale Transportarbeiterföderation (ITF) im Nationalsozialismus und das RAW (Reichsbahnausbesserungswerk) Meiningen als Teil eines illegalen Netzwerkes
Vortrag von Dr. Dieter Nelles, am 17.10.2020 um 19:30 Uhr

Meiningen und die Bakuninhütte im Aufbruch zur Demokratie – ein Versuch
Kaffeefahrt in Meiningen, am 24.10.2020

Lasst los die Hebel der Maschinen!
Geschichten, Gedichte und Lieder von Erich Mühsam präsentiert von der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken Erfurt, am 21.11.2020 um 19:30 Uhr

Anarchosyndikalismus in Sömmerda Spurensuche einer vergessenen Gewerkschaftsbewegung
Vortrag von Dr. PD Annegret Schüle, am 12.12.2020 um 19:30 Uhr

Anarchistische Streifzüge mit Ilja Trojanow
Filmvorführung und Diskussion: Oasen der Freiheit, am 30.1.2021 um 16:30 Uhr

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