Freitag, April 26

Kommentar: Randale leistet Bärendienst für sozialpolitische Bündnisse

Zerstörungen in der Löbderstraße. Foto: Martin Michel

Die abendliche Randale in der Jenaer Innenstadt hat nicht nur die Scheiben von Läden und Banken bersten lassen, sondern auch politisch einiges an Porzellan zertrümmert. Die Taten in der Innenstadt sind kaum verständlich oder nachvollziehbar. Neben einen Scherbenmeer finden sich schwarze Striche an den Schaufenstern und als einzige Artikulation ein Anarchiesymbol an der Jenaer Sparkasse. Für sich selbst spricht diese Aktionsform jedenfalls nicht. Nur das in der folgenden Nacht veröffentlichte Bekennerschreiben lässt die Handlungen im Entferntesten Einordnen. Die Randalierenden geben dort zahlreiche Gründe für ihre Taten an: die Kürzungen im Zuge des Haushaltssicherungskonzepts, die Gentrifizierung in Jena, der Konflikt um das Hausprojekt in der Rigaerstraße 94 in Berlin, Rassismus und  Verdrängung von Jugendlichen aus der Innenstadt. Gewichtige Themen, die sich allesamt nicht wirklich mit dem Zerschlagen von Schaufenstern angehen lassen. Das Sammelsurium verschiedener Themen lässt auch gewisse Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Motivation aufkommen: Ging es hier wirklich um diese Themen oder nicht auch um ein bisschen zu viel Spaß am Event?

Einen Bärendienst dürften die Handelnden den zahlreichen Bündnissen gegen eine neoliberale Stadtpolitik und gegen Gentrifizierung geleistet haben, ob es „Recht auf Stadt“, die Bürgerinitiative für soziales Wohnen in Jena oder das Bündnis Solidarische Stadt ist. Auf diesen lastet nun der nachvollziehbare Druck, sich von diesen Aktionen zu distanzieren, mit denen man eigentlich nichts zu tun hat. Eine Steilvorlage gibt die Aktion vor allem jenen Kräften, die man vorgibt, politisch zu bekämpfen: Die FDP Jena hat als Reaktion auf die Randale kurzerhand die Demonstration im Landgrafenviertel und Graffiti an der Jenaplan-Schule zum „linksmotivierten Alltagsterrorismus“ erklärt. Es mag ungerecht sein, aber am Ende zeigt sich: Die Taten Einzelner fallen schnell auf alle sozialpolitisch Engagierten zurück. Dabei brauchen gerade diese breite gesellschaftliche Mehrheiten für notwendige Veränderungen. Im Evergreen von Ton Steine Scherben bringt es Rio Reiser auf den Punkt: „Menschen sterben und ihr schweigt – Scheiben klirren und ihr schreit.“ Dies ist eine Anklage an die Mehrheitsgesellschaft, kann aber auch zur Selbstreflexion in der Wahl der Mittel anregen.

Wünschenswert wäre eine größere diskursive Resonanz auch in linken Zusammenhängen. Man kann in gemeinsamen Kämpfen solidarisch sein und trotzdem Aktionsformen kritisieren. Eine Szenedebatte über den Einsatz von Militanz wäre angesichts der Ereignisse und Reaktionen darauf begrüßenswert.

Es kommentierte Martin Michel

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