Du stolperst über eine Videonachricht einer fremden Frau, die sich im Jenaer Stadtzentrum darüber aufregt, wegen einer feministischen Demonstration zu spät zu einem wichtigen Meeting zu kommen. Für diesen „Pitch“ habe sie sich schon wochenlang vorbereitet, und jetzt das. Was das überhaupt solle, diese politischen Forderungen hierher zu tragen, wenn diese Menschen doch sowieso nichts an den Zuständen ändern können. Es soll ihr wohl den Tag versauen, genau deshalb behindern sie die Verkehrsmittel mit ihren lästigen Parolen und Idealen.
Cut, Szenenwechsel. Dieselbe junge Frau, ein paar Stunden später. Die Verspätung hat sich mehr oder weniger erübrigt, alles halb so schlimm. Hier zeigt sie ein anderes Gesicht, denn dieses Mal siehst du dich ihr in einer Videonachricht gegenüber, die sie einer entfremdeten Freundin schicken möchte. Die Pro-Choice-Demonstration von vorhin zu beobachten habe die Frau dazu veranlasst, sich nach all den Jahren mal wieder bei ihrer Freundin zu melden, sagt sie. Denn damals hatte sie kaum eine Menschenseele, an die sie sich wenden konnte, wenn sie sich von Zuhause verstoßen fühlte, weil ihre Mutter sie nicht akzeptieren wollte. Außer eben dieser Freundin. „Vielleicht wäre meine Mutter glücklicher gewesen, wenn sie mich abgetrieben hätte,“ spricht die Frau nachdenklich in ihr Telefon.
Ein Sprung vom Öffentlichen ins Private, von der Persona zur Person. Diese Kundgebung im Hintergrund: eine Bremsschwelle im Tagesablauf, die begrabene Erinnerungen hoch befördert und sogleich eine gekappte Leitung wiederherzustellen vermag. Die vorschnelle Enttäuschung der Frau über Nachteile beim Erklimmen der Karriereleiter und ihr Unwillen, sich auf die Inhalte des politischen Geschehens um sie herum einzulassen, sind plötzlich verziehen, das Klischee über eigennützige Workaholics hat Risse bekommen. Nun ist augenscheinlich, wie tief die Wunde ist, die sich hinter dem karrieristischen Geltungsanspruch verbirgt. Wenn das Video vorbei ist, blitzt im nächsten Fenster ein Text auf: „Erinnerst du dich vielleicht auch gerade an eine Person aus deinem Leben, bei der du dich wieder einmal melden möchtest oder solltest? Vielleicht ist heute der richtige Zeitpunkt dazu.“
Hinter dieser digitalen Bildabfolge, die sich an ebendieser Haltestelle im Stadtzentrum auf einem geliehenen Tablet abspielt, steht eine originelle Theaterinszenierung der Freien Bühne Jena, die die Zuschauer*innengruppen als „Expeditionsteams“ für „angewandte Zukunftsforschung“ quer durch die Stadt schickt. Dort begegnet ihnen „Stadtgeflüster“ wie das der jungen Frau am Handy: Geschichten, die um Alltagskrisen kreisen, zuweilen von der Freien Bühne live in Szene gesetzt, aber manchmal auch durch die Schnitzeljagd-App des Leihtablets vermittelt, die die Zuschauer*innen per Tracking durch die Stadt führt. Trotz technischer Schwierigkeiten mit der Software ist dieser kreative Umgang mit dem Freiluft-Hygienekonzept geglückt: Wer dem „Stadtgeflüster“ lauscht und sich den Aufgaben zur Selbst- und Fremdbegegnung öffnet, bleibt mit wertvollen Eindrücken zurück – vielleicht sogar mit einer Vision, wie diese Stadt menschlicher und „krisenfester“ zu gestalten wäre.
Logistisch ist das Stück ein großer Wurf für die Freie Bühne: Die Aufteilung des Stadtrundgangs in kleingruppengerechte Szenen, die manchmal einen Sketch, manchmal eine Tanzchoreografie oder auch einen introspektiven Einakter beinhalten, versetzt die Schauspieler*innen in einen anspruchsvollen Schichtbetrieb, dessen reibungsloser Ablauf von vielerlei Umwelteinflüssen gestört werden kann. Da ist es bedauerlich, dass der Rundgang die dafür angedachten zweieinhalb Stunden Spielzeit auch noch sprengt, so dass die durchaus anregenden letzten Szenen im Rausch der Rallye unterzugehen drohen. Auch, um den Aufgaben über das Tablet – die häufig die Aufzeichnung einer persönlichen Audiobotschaft verlangen – im Einzelnen gerecht zu werden, hätte das Stück gekürzt werden müssen.
Worum es bei den Stationen jeweils geht, soll nicht vorweggenommen werden; in einigen Fällen ist das ohnehin Auslegungssache. Der Stil jedenfalls ist sehr variabel, aber nie abgehoben. Den Zuschauer*innen wird eine wilde Mischung aus gekonnt-subversiver Verarbeitung des Leitmotivs „Krisen“ auf der einen Seite und bunt kostümierten Albernheiten auf der anderen geboten, die von den Absurditäten zwischenmenschlicher Beziehungen oder etwa politischer Wertedebatten inspiriert sind. Das Ergebnis: ein Wechselbad aus heiterer Satire und existentialistischem Ernst, das zum Mitmachen – und vor allem: zum sich Gedanken Machen – motiviert. Wer sich von einer Theaterperformance berieseln lassen will, dem sei von „Stadtgeflüster“ abgeraten: Hier geht es um bohrende Fragen der Stadtgesellschaft, der Bedeutung von Raum, Biografie, Lebensentwürfen und Systemkritik, denen sich das Publikum spielerisch nähert.
Auch wenn die digitalen Denkanstöße gelegentlich Poesiealbumcharakter annehmen und so die reflexive Sprengkraft einiger Eindrücke wieder entschärfen, sollten sie nach Besuch dieser Veranstaltung nicht verworfen werden. Der Sprung vom Öffentlichen ins Private und zurück ist ein lohnendes Wagnis, auch auf Seite der Zuschauerin. Warum lohnend? Weil dieses diffuse Stück übergangene, in der Anonymität der Innenstadt häufig mit dem Einstecken von Kopfhörern kaschierte Krisen anderer erst für alle sichtbar macht. Weil sich die Darsteller*innen weigern, die gesellschaftlichen Erschütterungen durch die Coronapandemie zu verabsolutieren, um sich sodann der immerwährenden Krise der Konkurrenzgesellschaft anzunehmen. Weil es mit dieser Inszenierung gelingt, die Stadt als einen Ort zu denken, der die Kreativität seiner Bewohner*innen spiegelt, anstatt diese im Alltagsgrau zurechtzustutzen. Dafür steht das Projekt „Stadtgeflüster“. Die Freie Bühne legt vor. Jetzt bist du dran.
(pj)
Von Mittwoch, 12.08. bis Samstag 15.08. werden täglich jeweils 17:45, 18:15 und 18:45 Aufführungen beginnen, die ca. 2,5 Stunden dauern. Dabei läuft das Publikum in kleinen Gruppen mittels der App Actionbound von Szene zu Szene und wird wie in einem digitalen Guide durch eine von Krisen erschütterte Stadt geleitet. Um die Hygienemaßnahmen einzuhalten, muss vorher eine Karte bei der Jena-Tourist-Information erworben werden.
Für musikalische Begleitung auf dem Marktplatz sorgt die Jazz-Funk-Soul-Band Techno.