Samstag, April 20

Interview mit Lena Güngör: über den demokratischen Ausnahmezustand

Lena Güngör ist Vorsitzende der Stadtratsfraktion von DIE LINKE in Jena und Mitglied des Thüringer Landtages.

Die Linksfraktion im Jenaer Stadtrat hat sich Mitte letzter Woche gegen die neue Maskenpflicht in Läden und Orten mit engen Menschen Kontakt ausgesprochen. Gefordert wurde statt einer Pflicht eine freiwillige Lösung. Warum?

Mir ist es wichtig, dass es immer wieder ein Abwägen geben muss zwischen dem Gesundheitsschutz und allen Maßnahmen, die notwendig sind, damit man sich selbst und andere schützt und der Verhältnismäßigkeit. Die Rolle, die Jena dabei eingegangen ist, könnte man positiv als pro aktiv bezeichnen, aber auch als Alleingang an der einen oder anderen Stelle.

Wir bemühen uns auf Landesebene um Regelungen, die für alle Landkreise und Städte gelten. Das hat nicht nur damit zu tun, dass es praktisch ist, sondern dass unser Leben oft zwischen verschiedenen Orten stattfindet. Ich wohne vielleicht an einem Ort und pendele aber zum Arbeiten in die andere Region. Das betrifft ja auch Jena, den Saale-Holzland-Kreis und das Weimarer Land im Besonderen. Wenn ich mich also an mehreren Orten aufhalte, wird das schwierig. Überall gelten andere Regeln. Das sorgt für Unsicherheit und Irritationen. Das wiederum führt wieder zu mehr Kommunikationsbedarf.

Die Masken bringen auf jeden Fall einen zusätzlichen Schutz und deswegen können wir das auch befürworten. Das ist besonders wichtig für Arbeitnehmer*innen in systemrelevanten Berufen. Wir müssen aber auch bedenken, dass es nur funktioniert, wenn Hygieneregeln im Umgang mit den Masken beachtet werden. Sie müssen regelmäßig gewaschen werden, das Material muss bestimmten Anforderungen genügen. Auch müssen weiterhin die wichtigen Abstandsregeln befolgt werden. Für uns als Linke ist auch die Verteilungsfrage wichtig. Wir haben Engpässe für Schutzausrüstung bei medizinischem Personal. Es muss klar kommuniziert werden, dass es hier um andere Masken geht.

Wir sind für eine Empfehlung und keine Pflicht, da wir den Eindruck haben: Die Jenaer Bevölkerung hat sich bisher sehr gut an die Maßnahmen gehalten und bemüht sich auch bei diesem Tempo mitzukommen. Unter diesen Umständen kann eine Freiwilligkeit eine klare Legitimation für eine Maßnahme sein.

Sie sprechen Verunsicherung über die geltenden Regeln an. Denken Sie, die Bürger*innen sehen aktuell noch durch? Es gibt immerhin mittlerweile 16 Allgemeinverfügungen der Stadt zusätzlich zu den Landesregelungen.

Ja, das wird immer schwieriger. Deswegen ist es auch wichtig, die einzelnen Maßnahmen kritisch zu begleiten. Das sehen wir zum Beispiel am Verweilverbot auf Bänken, wo sich viele Menschen gemeldet haben und die Verhältnismäßigkeit hinterfragt und gleichzeitig auf die Überforderung durch die Vielzahl an Maßnahmen hingewiesen haben. Das wurde dann ja auch korrekterweise sehr schnell wieder zurückgenommen.

Die vielen Schritte haben natürlich auch etwas mit der dynamischen Ausgangslage zu tun. Das sehen wir ja auch auf der Landesebene. Dann gibt es auch immer wieder Entscheidungen in unterschiedliche Richtungen. Auf Landesebene mussten beispielsweise Lösungen gefunden werden, um die notwendige Hygiene für Lastkraftfahrer*innen wiederherzustellen. Da gibt es sowohl auf Stadt-, als auch auf Landesebene immer wieder Nachbesserungsbedarf.

Ihr Kollege Knopf hatte die Befürchtung geäußert, dass bei zu vielen Maßnahmen auch irgendwann ein Widerstand in der Bevölkerung eintreten könnte. Sehen Sie das auch so?

Ja, da sehe ich auch eine Gefahr. Für mich ist aber der wichtigere Punkt: wenn es Maßnahmen gibt, sind diese logisch? Die Bürger*innen müssen nachvollziehen können, warum dieses und jenes erlaubt oder nicht erlaubt wird. Sobald wir das Gefühl bekommen, es ist nicht eindeutig oder willkürlich in der Auslegung, kann sich Widerstand auch gegen eigentlich sinnvolle Maßnahmen formieren.

Ursprünglich sollte es einen zentralen Regelungskatalog des Landes geben. Kommunen sollten von diesem nur abweichen, wenn es eine besondere Infektionslage gibt. Die Stadt weicht sehr stark von den Landesregeln ab. Sehen sie aktuell eine besondere Situation in Jena gegeben?

Ich finde es erst mal gut, dass eine Regelung gefunden worden ist, die auch individuelle Entscheidungen der Kommunen weiter ermöglicht. Das hätte sonst genau die eben angesprochenen Widerstände ausgelöst, wenn in die Entscheidungsfreiheit der Kommunen eingegriffen worden wäre. Es gibt ja auch unterschiedliche Situationen in den Kommunen. Die Frage ist aber wie abgestimmt und transparent laufen solche Prozesse.

Da gibt es ja das Beispiel der Risikogebiete, die Jena selbst sehr viel weiter definiert hatte. Eine solche Einteilung nach Bundesländern ist dem Virus aber egal. Das sind hoheitliche Bereiche. Eine solche Abschottungslogik macht an der Stelle nicht unbedingt Sinn. Die Frage muss vielmehr sein: wie können wir einheitliche Maßnahmen in ganz Europa umsetzen?

Die Frage der Risikogebiete ist ja auch vor dem Hintergrund interessant, dass Jena pro Einwohner im Vergleich zu den meisten Gebieten mehr Fälle hatte.

Ja, deswegen ist es auch folgerichtig, dass die Regelung zurückgenommen wurde.

Jena hat in den vergangenen Tagen ein wahres Stakkato an Maßnahmen beschlossen. Prescht die Stadt zu schnell vor?

Die Maßnahmen greifen. Die Menschen haben erkannt, dass es sich um eine tatsächliche Gefahrensituation, gerade für Risikogruppen, handelt. Die Menschen verhalten sich entsprechend. Das ist das Wichtigste was gerade passiert. Durch die Schul- und Kitaschließung und die Schließung vieler Arbeitsplätze, auch mit all den negativen individuellen Folgen, konnte das Ansteckungsrisiko sehr deutlich verringert werden. Jetzt ist es aber wichtig, trotz Osterfeiertagen die Maßnahmen weiter durchzuhalten. Zumindest bis 20. April.

Ich nenne das mal Profilierung während der Coronakrise. Es geht nicht darum wer die härtesten Erlasse veröffentlicht. Jede Maßnahme muss verhältnismäßig sein. Dabei muss auch die Einzelsituation eine Rolle spielen. Dabei geht es auch um die psychischen und physischen Folgen der Isolation im Zuhause.

Das angesprochene Zuhause kann sehr unterschiedlich groß sein. Mit sehr unterschiedlichen Sicherheiten. Nicht alle sitzen im schicken Homeoffice. Sehr viele haben existentielle Probleme. Wenn wir sagen, oberste Priorität hat der Infektionsschutz, müssen wir diese Menschen immer mitbedenken.

Daran anschließend: viele Menschen sind auf ihre Wohnungen begrenzt. Gleichzeitig hat das Land Thüringen die Frauenhäuser geschlossen. Was gibt es in Jena für Ansätze, damit umzugehen?

An dem Punkt wird gerade ganz viel gearbeitet. Die Frage ist, wie können wir in solchen Einrichtungen keine Gefahren entstehen lassen und gleichzeitig die Hilfs- und Unterstützungsangebote aufrecht erhalten. Ich finde es gut, dass aktuell die verschiedenen Notfalltelefonnummern stark verbreitet werden, z.B. für Frauen oder für Kinder und Jugendliche.

Dann müssen wir auch an Menschen denken, die gar keinen festen Wohnsitz haben. Wir sollten prüfen, welche Formen der Unterbringung wir haben. Zum Beispiel touristische Hotels, die sowieso nicht öffnen können. Die Solidarität darf nicht dabei aufhören für die Nachbarn einkaufen zu gehen, sondern wir müssen auch Personen helfen, die kein Zuhause haben.

Wie bewerten Sie die Entscheidung von Sozialdezernent Hertzsch, keine Geflüchteten während Corona aufzunehmen?

Das ist in meinen Augen eine Frage für den Stadtrat. Wir haben es auch auf die Tagesordnung des Sonderausschusses gebracht. Dort wollen wir mit Herrn Hertzsch in Dialog treten.

Wir haben einerseits Geflüchtete in den Erstaufnahmeeinrichtungen. In diesen Einrichtungen ist es wahnsinnig schwierig, all diese Hygienemaßnahmen durchzuführen. Die Menschen leben auf so kleiner Fläche, dass sie die Kontaktreduktion eigentlich nicht durchführen können.

Aber es gibt auch die Geflüchteten an der griechischen Grenze. Jeder Tag, jede Stunde, die wir nicht reagieren und eine so inhumane Situation weitergehen lassen sindfür mich nicht tragbar. Nicht tragbar als Privatperson genauso wie als politische Person, weil wir damit auch einen Anteil an der Situation haben. Ich finde es ganz wichtig, dass Deutschland, die Länder und die einzelnen Kommunen sich ganz klar positionieren und die Menschen aus dieser Situation herausholen, die wir gerade erleben.

Ist es verhältnismäßig, dass aktuell alle Versammlungen verboten sind? Es könnte ja zum Beispiel auch strenge Hygieneauflagen und Abstandsregelungen geben.


Ich glaube, da wird es nochmal Bewegung geben, wenn die anderen Maßnahmen greifen. Dann können wir sagen mit welchen Hygienemaßnahmen es ein vertretbares Risiko ist zu demonstrieren. Das ist der Fall, wenn ein Mindestmaß an Schutz auch gewährleistet werden kann.

Es muss kommuniziert werden, dass es sich jetzt lediglich um einen kurzfristigen Übergangszustand handeln darf. Alles andere wäre mit Blick auf unsere Grundrechte gefährlich. Dazu gehört auch die Debatte über das Thema Handyortung. Wo hört Gesundheitsschutz auf? Welche Maßnahmen haben noch etwas damit zu tun? Wo werden darüber hinaus Grundrechte begrenzt?

Ich finde es aber auch gut, dass im Bereich der politischen Arbeit gerade digital und kreativ hochgefahren wird. Da passiert sehr viel kreative Bewegung. Die hoffentlich auch nach dem Ende der Einschränkungen weiter bestehen bleibt.

Wie steht DIE LINKE zum neuen Sonderausschuss?

Die Landesverordnung lässt den Kommunen den Spielraum zu tagen. Das ist möglich, wenn eine Dringlichkeit vorliegt und die Kommunen in der Lage sind, entsprechende Infektionsschutzmaßnahmen umzusetzen. Es ist wichtig, immer wieder zu prüfen, welche Varianten gibt es für den Stadtrat und vor für die Ausschüsse. In den Ausschüssen sitzen schon weniger Personen. Da können wir einen entsprechenden Raum schneller schaffen. Der schwierigere Punkt ist die Frage der Öffentlichkeit.

Die Thüringer Kommunalordnung ist für eine solche Situation überhaupt nicht ausgelegt. Sie muss modernisiert werden. Wir brauchen die Möglichkeit, die geforderte Öffentlichkeit zum Beispiel mit Livestream herzustellen. Sobald das Land Thüringen wieder die Arbeitsfähigkeit des Landesparlamentes hergestellt hat, sollte die Thüringer Kommunalordnung entsprechend modernisiert werden.

Der Sonderausschuss hat beispielsweise eine Sondererlaubnis vom Gesundheitsamt. Er tagt ohne Publikum. Dadurch ist der Sonderausschuss in seiner Wirkung begrenzt. Er stellt keine Öffentlichkeit her. Er stellt nicht die Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse des Stadtrates dar. Er ist zeitlich begrenzt, um das Infektionsrisiko zu senken. Er ist nur vorberatend tätig und wird nicht selbst beschließen dürfen.

Trotzdem ist es wichtig zu betonen, dass die Alternative nur das Eilentscheidungsrecht des Oberbürgermeisters wäre. Wir haben mit dem Oberbürgermeister vereinbart, dass immer das Votum des Sonderausschusses auch nach Außen kommuniziert wird. Dadurch wird sichtbar gemacht, wie der Ausschuss sich positioniert. Gleichzeitig wird dann auch gezeigt, ob der Oberbürgermeister Eilentscheidungen getroffen hat, diese aber gleichzeitig gar nicht auf der Tagesordnung des Sonderausschusses waren.

Es ist ebenfalls wichtig, dass die Fraktionen des Stadtrates einen Einfluss auf die Tagesordnung des Ausschusses haben und eigene dringende Themen einbringen können. All Dies brauchen wir für die nötige Transparenz.

Alle demokratischen Parteien sind sich aber einig: Das ist nur ein Übergang! Sobald die Möglichkeit normal zu tagen wiederhergestellt ist, möchte die LINKS-Fraktion, dass diese auch wieder genutzt wird. Deswegen muss fortlaufend geprüft werden, wann z.B. die Ausschüsse wieder tagen dürfen. Und ich denke, dieser Meinung ist auch die Mehrheit des Stadtrates.

Was gibt es sonst noch zu sagen?

In der aktuellen Situation müssen wir alle auf die Menschen in unserem Umfeld achten. Gerade was die psychische Belastung der aktuellen Situation angeht, die für viele Menschen entsteht. Und dass wir immer schauen, welche Formen von demokratischer Teilhabe es weiterhin gibt.

Ich würde noch einmal darauf hinweisen, dass es ein verstärktes Interesse an Onlinepetitionen gibt. Dabei ist es wichtig, direkt die Petitionsplattform des Thüringer Landtages zu nutzen. Das ist die bessere Option, als z.B. private Anbieter mitfragwürdigem Datenschutz, bei denen die gesammelten Unterschriften dann nicht unbedingt im Parlament ankommen.

Vielen Dank!

Bleiben Sie gesund

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