Donnerstag, Mai 2

Der 2. Oktober 1990: Ein Tag der Gewalt

Das besetzte Haus in der Karl-Liebknecht-Straße 58 in Jena, das als autonomes Jugendzentrum diente, wurde am Abend des 2. Oktober 1990 von Nazis verwüstet. Bild: Screenshot zweiteroktober90.de

Wir schreiben das Jahr 2020. Der deutsche Nationalismus blüht. Aber nicht nur Rechtsextreme, sondern auch Konservative, Liberale und Sozialdemokrat*innen beteiligen sich rege daran, zumindest wenn es um Verfassungspatriotismus, „sichere Grenzen“ und die deutsche Wiedervereinigung geht. Anlässe wie der 30. Jahrestag der Wiedervereinigung am morgigen 3. Oktober dienen gerne der Rückbesinnung auf die Errungenschaften der vermeintlich zusammengewachsenen Kulturnation. Dabei bleibt die Programmatik der Bürger*innenrechtsbewegung in der DDR häufig außen vor, einen demokratischen Sozialismus zu schaffen. Die taugt nicht zur nationalen Erinnerung. Genauso wenig der ostdeutsche Rechtsextremismus jener Jahre.

Jetzt meldet sich eine neue Initiative zu Wort, die das Narrativ einer „Friedlichen Revolution“ einer zeitgeschichtlichen Prüfung unterziehen möchte. Das Online-Projekt ZweiterOktober90 dokumentiert die Gewalt, die um diesen Schicksalstag von Rechtsextremen verübt wurde, auch in Jena. Reihenweise sind zu dieser Zeit gewaltsame Angriffe auf alternative Wohnprojekte und migrantisch bewohnte Häuser geplant und verübt worden. Für die Aufarbeitung dieser Vergangenheit hat die Initiative zahlreiche Archive durchwühlt und Interviews mit Zeitzeug*innen geführt. Wir haben sie interviewt.

Libertad Media: Wie ist das Projekt ZweiterOktober90 entstanden? Was hat euch dazu bewegt?

ZweiterOktober90: Es gibt ja wahnsinnig viele und gut arbeitende Initiativen, die aufgedeckt haben und immer wieder aufdecken, dass es rechte Gewalt, in Ost wie West, in unterschiedlichen Formen immer gab. Die Zeit um die Vereinigung 1990 ist eine, in der es viel rechte und nationalistische Gewalt gab und viele unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft von DDR und BRD in Konkurrenz miteinander standen. Dass der 2. und 3. Oktober 1990 da als symbolträchtige Tage, die Projektionsfläche für unterschiedliche Interpretationen bieten, in irgendeiner Art hervorstechen könnten, das war unsere eigentliche Frage. Wir haben über unser Umfeld immer mal wieder von Ereignissen an diesen Tagen gehört und dann angefangen, in Zeitungen weiter zu suchen. Das Projekt hat ja eigentlich einen sehr kleinen Fokus, kann aber trotzdem ein Schlaglicht auf diese Zeit werfen und die Geschichte der Vereinigung aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Das finden wir spannend.

LM: Geht das Projekt auf eine Initiative von Zeitzeug*innen zurück oder entstand das Interesse an dieser „anderen“ Geschichte der Wiedervereinigung unter einer jüngeren Generation?

ZO90: Wir selbst sind alle erst nach der Wende geboren oder waren damals kleine Kinder, sind also tatsächlich die Generation danach. Es ist aber, glaube ich, nichts Ungewöhnliches, dass oft die Generation danach neue Fragen stellt und so neue Perspektiven auf die Vergangenheit entstehen.

LM: Wie waren die Reaktionen der Zeitzeug*innen auf euer Interesse?

ZO90: Positiv. Sie wollten ihre Geschichte gerne erzählen.

LM: Müssen wir uns von der Idee einer „Friedlichen Revolution“ verabschieden? Was stimmt nicht mit dem Bild von der Wende, das in der deutschen Gesellschaft vorherrscht?

ZO90: Ja, zu Teilen auf jeden Fall. Es vergisst diejenigen, für die sich die Welt anders dargestellt hat. Es vergisst, dass rechte Ideen und Ideologien schnell eine große Rolle gespielt haben, ohne dass dabei in einer breiteren Öffentlichkeit thematisiert wurde, dass die Vereinigung nochmal mehr den Bezug zur Vergangenheit, zum NS stellt. Es vergisst, dass Jüd*innen in der DDR antisemitische Erfahrungen gemacht haben, dass es rassistisch motivierte Morde gab; dass es in Westdeutschland Rassismus und Antisemitismus gab; dass keineswegs über eine breitere Schuld der deutschen Bevölkerung an den Massenmorden des NS gesprochen wurde.
Aber es vergisst auch einfach, dass es andere Oppositionen gegen die Vereinigung gab, die nicht SED waren und die auch nicht gehört wurden. Diese mussten ebenfalls, aufgrund ihrer Einstellung, Gewalterfahrungen machen.
Bis heute existiert ein einseitiges Bild der „Wende“, das sehr von einem deutschen, konservativen Blick geprägt ist. Diejenigen, die andere Erfahrungen gemacht haben, hören sich diese Interpretation ja auch schon seit 30 Jahren an. Aber ihre Erfahrungen sind nun einmal auch Bestandteil der deutsch-deutschen Geschichte, also warum sollten nicht auch die mal gehört werden?

LM: Auf der Webseite ist wiederholt die Rede von polizeilichen Versäumnissen beim Unterbinden der rechten Angriffe auf Linke und Migrant*innen um den 2. Oktober. Seht ihr darin neben rechter Gewalt weitere Kontinuitäten mit dem heutigen Deutschland?

ZO90: Es gibt bestimmt Kontinuitäten, aber uns geht es darum, dass wir dokumentiert haben, was an dem Tag beziehungsweise der Nacht passiert ist. Das sind die Erfahrungen, die die Menschen damals mit der Polizei gemacht haben, und die lassen wir erst mal als solche stehen.
Das ist auch in seinen zeitlichen Kontext zu setzen; die Polizei beispielsweise muss auch in ihrem zeitlichen Kontext gesehen werden. Ein paar grobe Punkte: Da gab es einen Autoritätenwechsel, sie hat als Volkspolizei in der DDR eher nicht eingegriffen, und rechte Gewalt war auch eher die Sache der Stasi, wenn sie überhaupt in den Sicherheitsbehörden wahrgenommen wurde. Das sind Faktoren, die heute nicht mehr aktuell sind.
Dass da noch ideologische Momente eine Rolle gespielt haben können und wie sich die bis heute fortsetzen, ist keine Frage unserer Dokumentation gewesen. Dass Menschen heute ähnliche Erfahrungen mit der Polizei machen und sich die Frage nach eine Kontinuität aufdrängt – den Hinweis muss eine Institution, die damals Polizei hieß und heute Polizei heißt und sich nicht kritisch mit der eigenen Geschichte auseinandergesetzt hat, in der über Ausbilder*innen und Personal vielleicht auch bestimmte Einstellungen mit weitergegeben werden, zumindest gefallen lassen. Das ist aber keiner, den wir aus unserer Arbeit formuliert haben.

LM: Ihr pflegt auf eurer Webseite einen kritischen Umgang mit dem staatlich verordneten Antifaschismus der DDR, der in der Debatte um AfD-Wahlerfolge in den letzten Jahren wiederholt thematisiert worden ist. Wenn wir annehmen, dass das Ziel einer antifaschistischen Gesellschaft trotz allem aufrichtig war, was können wir dann heute aus diesen Fehlern lernen? Gibt es auch Errungenschaften im Vergleich zum Westen?

ZO90: Es ging uns nicht um einen Systemvergleich oder darum, zu gucken, welcher der beiden Staaten welche Errungenschaften hatte. Dadurch, dass unser Fokus klein ist, ist unsere Feststellung eher die, dass es in DDR wie BRD eine verpasste Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gab, dass Antisemitismus und Rassismus in der Bevölkerung verbreitet waren und damit in allen gesellschaftlichen Institutionen.
Ob das Ziel einer antifaschistischen Gesellschaft aufrichtig war oder nicht, können wir auch nicht bewerten, aber wir können zumindest die Ausführung kritisieren. Die DDR ist zum Beispiel mit ihrem Antisemitismus nicht alleine, der kam in allen vormaligen SU-Staaten in den 1990er Jahren auf. Woher das kam, ist eine längere Geschichte.
Im Prinzip stellen wir fest, dass sich zwei Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus zu einem vereinen und beide Probleme mit gesellschaftlich verankertem Rassismus und Antisemitismus haben. Dazu kommt der nationalistische Wunsch, „zusammen zu gehören“. Dabei fallen die Menschen raus, die keinen Platz in dieser Vorstellung von Deutschland haben.
Ob die AfD heute noch davon profitiert, ist bestimmt ebenso komplex zu beantworten. Sicher haben die weiterhin vorhandenen Einstellungen damit zu tun, aber es wäre etwas monokausal, die Erfolge der AfD ausschließlich auf den DDR-Staatsantifaschismus zurückzuführen.

LM: Seid ihr hoffnungsvoll, dass es ein Umdenken über die deutsche Geschichte nach dem NS-Faschismus geben wird? Was sind aktuelle Herausforderungen, bis wir dahin gelangen können?

ZO90: Erst einmal würden wir uns wünschen, dass mehr über die deutsche Vereinigung nachgedacht wird. Und dass anerkannt wird, dass es in der Zeit wirklich viele Menschen gab, die aus unterschiedlichen Gründen von rechter Gewalt betroffen waren, und es dafür eine gesellschaftliche Verantwortung gab. Das geht auch über den Tag und unser Projekt hinaus.

LM: Ist Weiteres in Planung, um die Geschichte rechter Angriffe auf Linke und Migrant*innen in der DDR für mehr Menschen sichtbar zu machen?

ZO90: Wir würden das Projekt gerne in Form von mehr Interviews und mehr Recherche über den 2. und 3. Oktober weiterführen. Spannend wäre es, wenn dabei mehr Perspektiven oder neue Orte hinzukommen. Daher würden wir uns sehr freuen, wenn uns Leute anschreiben, die Hinweise haben oder sich selbst an etwas erinnern. Außerdem gäbe es noch weitere Dinge, denen man auf den Grund gehen sollte, zum Beispiel ob es nach den Zuführungen von einigen Rechten in der Nacht Ermittlungen gab und wie sie ausgegangen sind. Oder ob und welche Gewalt es in den Jahren danach anlässlich des Jahrestages der Vereinigung gab.

Das Gespräch führte Philipp Janke. Wir bedanken uns für die Antworten. Die Rechercheergebnisse des Projekts ZweiterOktober90 sind über zweiteroktober90.de verfügbar.

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