Donnerstag, April 18

Überblick: Thüringen lockert – trotz einer Inzidenz von über 100

Leere Schule Symbolbild Foto: kyo azuma/Unsplash

Die Thüringer Landesregierung plant umfangreiche Lockerungen des aktuellen Lockdowns. Die reine Zahlenlage sieht noch betrüblich aus: in den vergangenen sieben Tagen haben sich mindestens 112,1 von 100.000 Thüringer*innen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert, Dunkelziffer unbekannt. Das Bundesland mit den höchsten Infektionszahlen. Nach Angaben der Landesregierung sind seit Beginn der Pandemie 2.655 Mitbürger*innen nachweislich an oder mit Corona verstorben. Thüringen hat eine Testkapazität von 10.000 in der Woche. Davon werden allerdings nur etwa 70% genutzt, wie Gesundheitsministerin Heike Werner (Die Linke) berichtet. Hinzu kommen Schnelltests, die nicht in den Statistiken auftauchen. Diese werden beispielsweise in Schulen und Kindertagesstätten eingesetzt.

Vom Ziel des Lockdowns, die Inzidenz auf unter 35 zu senken, ist Thüringen weit entfernt. Die Problematik der neuartigen Mutationen schlägt sich aktuell nur geringfügig in den Zahlen nieder. Der Wildtyp (ohne nennenswerte Mutationen) wird erfolgreich durch die aktuellen Maßnahmen bekämpft. Der R-Wert liegt für Thüringen nach Berechnungen des Forschungszentrums Jülich aktuell bei 0.87 (Intervall 0,62-1,14).

rt.live, Projekt von Kevin Systrom, Mike Krieger, Thomas Vladek und weiteren.

Die Problematik ist, dass sich die neuartigen Mutationen B.1.1.7 (Ursprung England) und B.1.351 (Ursprung Südafrika) exponentiell ausbreiten. Sie sind deutlich ansteckender und können damit den knapp unter 1 liegenden R-Wert bei gleichbleibenden Maßnahmen über die Schwelle von 1 bringen und damit eine dritte Welle auslösen. Diverse Modellrechnungen prognostizieren eine Absenkung der Infektionen bis Mitte März, danach könnten die Mutationen mehr als die Hälfte der Infektionen ausmachen und einen weiteren Anstieg auslösen. Der Anteil der britischen Mutation beträgt laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bereits mehr als 20%. Neben vielen Wissenschaftler*innen warnt auch der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (SPD) vor diesem Szenario:

Das Problem, was auf uns zukommen kann: Fallzahlen sinken bis Mitte März, steigen dann automatisch wieder, weil B117 und B135 Varianten mehr als Hälfte der Neuinfektionen ausmachen. Wenn man in einen solchen Anstieg hinein lockert und Osterreisen macht droht massive 3. Welle.

Bei einer Dominanz der neuen Mutationen würde der R-Wert um etwa 40% steigen. Im Fall Thüringens würde das zu einem Wert von 1,2 (Wachstum von 120% pro Generationszeit von 4 Tagen) führen – ein explosionsartiges exponentielles Wachstum die Folge. Aktuell werden lebhafte Debatten über den Umgang mit dieser Situation geführt. Eine mögliche Alternative zur dritten Welle ist, die Infektionszahlen mithilfe des Lockdows so stark zu senken, dass die Gesundheitsämter wieder weitestgehende Kontrolle über das Infektionsgeschehen gewinnen. So schlug der Pharmakologe Thorsten Lehr im Deutschlandfunk eine Inzidenz von unter 10 als Zielwert vor. Dies biete ausreichend Sicherheitspuffer bei neuen Ausbrüchen.

Thüringen geht in dieser Situation derweil einen anderen Weg. Wie die Landesregierung in ihrer gestrigen Pressekonferenz bekanntgab, sind umfangreiche Lockerungen in Planung. Ab 1. März sollen Friseure, Blumenläden und Gartenbaumärkte wieder öffnen. Auch nicht-öffentliche Mensen sollen wieder in Betrieb gehen. Bereits am kommenden Samstag sollen Fahrschulen wieder öffnen und die nächtliche Ausgangssperre abgeschafft werden. An Bestattungen sollen künftig wieder bis zu 25 Personen teilnehmen dürfen. Auch Kontaktbeschränkungen bei jüngeren Kindern werden leicht gelockert.

Die Entscheidung mit dem größten Einfluss auf das Infektionsgeschehen dürfte die Wiederöffnung der Schulen haben. Schon ab kommendem Montag (22. Februar) gehen die Grundschulen und Kindertagesstätten im Freistaat wieder in den eingeschränkten Regelbetrieb über. Bildungsminister Helmut Holter stellt fest: „Es gilt Betreuung und Bildung zu sichern und gleichzeitig die Gesundheit zu schützen.“ Die Beschulung soll in festen Gruppen stattfinden. Auch gelte keine Präsenzpflicht, Schüler*innen, die das Risiko nicht in Kauf nehmen wollen, dürften auch von Zuhause beschult werden. Motiviert hat den Bildungsminister zur Entscheidung, die Schulen eingeschränkt zu öffnen, auch ein Blick auf den Kalender: Schüler*innen verbleiben nur noch 92 Schultage, Abiturient*innen gar nur 52 bis zu den Prüfungen. Am 1. März sollen die Klassen 5 und 6 folgen. Die Schulleiter*innen sollen ab einer Inzidenz von unter 100 entscheiden, wie sie die 7. Klasse und höher weiter beschulen. Zur Auswahl stehen Wechselunterricht oder Beschulung in festen Gruppen. Allgemein überträgt das Gesundheitsministerium sehr viele Entscheidungen auf die Schulleitungen: diese können beispielsweise in Stufe Gelb-2 frei entscheiden, welche zusätzlichen Maßnahmen sie ergreifen. Ob Schulleitungen wirklich die notwendigen medizinischen Fachkenntnisse besitzen, um erfolgreich eine Pandemie zu bekämpfen, wird sich zeigen.

Martin Kriegel, Anne Hartmann

Auf die Frage unserer Redaktion, warum am Arbeitsplatz für Schüler*innen keine Maskenpflicht besteht, konnte der Bildungsminister keine klare Antwort geben. Es gebe verschiedene Studien zu dem Thema und kleine Kinder würden wegen fehlender Mimik Schäden davontragen. Nach einer aktuellen Studie der TU Berlin ist das Infektionsrisiko in einem zur Hälfte besetzen Klassenzimmer (Wechseluntericht) um den Faktor 5,8 erhöht. In einem vollbesetzten Klassenzimmer sogar um den Faktor 11,5. Eine Erzieher*in aus einer Jenaer Schule kommentierte gegenüber unserer Redaktion die Pläne wie folgt:

Ich treffe mich privat nur noch mit drei festen Kontaktpersonen, aber ab Montag treffe ich mich täglich mit zwanzig verschiedenen Haushalten. Geimpft werde ich auch nicht. Was soll ich tun? Streiken?

Der stellvertretende Vorsitzende des DGB Hessen-Thüringen, Sandro Witt, wirft der Landesregierung vor, mit diesen Plänen Menschenleben zu gefährden. Witt zeigt sich auch frustriert von den Plänen: „Verzeiht mir bitte. Aber das Ignorieren unserer gewerkschaftlichen Vorschläge für sichere Bildung macht gerade etwas in mir kaputt.“ Innerhalb der rot-rot-grünen Minderheitskoalition scheint über die Masken aktuell kein Konsens zu herrschen. So twitterte der Landtagsabgeordnete Christian Schaft:

Wir haben heute als #r2g-Fraktionen genau dies thematisiert & empfohlen in Verordnung aufzunehmen: Masken ab Klasse 1. Alltagsmaske bei SuS von Kl. 1-4 und medizinischer MNB für Sek. 1+2. Zudem Ausweitung Testmöglichkeit & vereinfachte Befreiung Präsenzpflicht u.a.

Ob angesichts einer drohenden mutationsgetriebenen dritten Welle die aktuellen Lockerungen der Landesregierung wirklich „die Gesundheit schützen“ oder ob es sich um gefährliche „Lockerungsorgien“ handelt, wird sich Mitte bis Ende März zeigen. Mit #NoCovid oder gar #ZeroCovid hat der aktuelle Plan der Landesregierung jedenfalls nichts zu tun.

Martin Michel

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