Donnerstag, März 28

Hanau-Attentat: Erinnern heißt Kämpfen

Der Anschlag in der hessischen Stadt Hanau ist ein Jahr her. Die politischen Forderungen der Hinterbliebenen bleiben ungehört, wurden aber Ende dieser Woche auf den Straßen vieler deutscher Städte mit Nachdruck geäußert. Bild: Martin Michel

Jena/Hanau. Am Freitagnachmittag des 19. Februar, genau ein Jahr nach dem rassistischen Anschlag in Hanau, fand in der Johannisstraße eine Gedenkveranstaltung statt, organisiert von der Jungen Gemeinde (JG) Stadtmitte. Etwa 300 Menschen erinnerten an die Mordopfer, deren Namen zu Beginn verlesen wurden:

Ferhat Unvar
Gökhan Gültekin
Hamza Kurtović
Said Nesar Hashemi
Mercedes Kierpacz
Sedat Gürbüz
Kaloyan Velkov
Vili Viorel Păun
Fatih Saraçoğlu

Bild: Martin Michel

Im Anschluss daran erschallte die Audiobotschaft „Stimmen aus Hanau“, die die im Andenken an die Opfer letztes Jahr gegründete Initiative 19. Februar auf ihrer Webseite für Gedenkveranstaltungen zur Verfügung gestellt hatte. Der Wortlaut, der Stimmen Angehöriger und Überlebender versammelt, hier zum Nachhören:

Quelle: Initiative 19. Februar

Der Ton ist nicht nur trauernd, sondern entschieden anklagend. Die Jenaer Stadträtin und Landtagsabgeordnete Lena Güngör (Linke) schloss sich dem Tenor „Erinnern heißt verändern“ an. Ihre Rede bei der Holzskulptur in der Johannisstraße fasste die Reihe an staatlichen Skandalen zusammen, die inzwischen auf Betreiben der Hinterbliebenen und investigativer Journalist*innen zwar dokumentiert, aber noch lange nicht aufgeklärt sind. Die Angehörigen der Opfer hatten und haben nur begrenzte Mittel zur Verfügung, die Aufarbeitung der Morde am 19. Februar zu leisten, während Staatsbeamte seit den Enthüllungen über unbeantwortete Notrufe und pietätlose Erstbehandlung der Angehörigen nun ein manifestes Interesse daran haben, die Vorgänge so oberflächlich wie möglich zu ermitteln. Güngör benannte die Probleme klar:

Wie kann es sein, dass ein vorbestrafter Mann mit attestierten psychischen Erkrankungen, der offen rassistisch ist, einen Waffenschein erhalten, verlängern und auf das europäische Gebiet ausweiten kann? Wie kann es sein, dass er mit seinem eigenen Auto von Tatort zu Tatort fahren konnte, ohne aufgehalten zu werden, obwohl sein Nummernschild durchgegeben worden war? Wie kann es sein, dass die Polizei in dieser Nacht nicht erreichbar gewesen ist? Wie kann es sein, dass der Notausgang der Shishabar, der Leben hätte retten können, in jener Nacht verschlossen war? Wie kann es sein, dass die Rolle des Vaters des Täters nicht aufgeklärt ist, dass die Bedrohung, die noch heute von ihm ausgeht, nicht ernst genommen wurde? Wie kann es sein, dass die Überlebenden und Hinterbliebenen gesagt bekommen, sie sollen keine Rache üben – anstatt sie zu schützen und zu betreuen? Wie kann es sein, dass sich niemand entschuldigt hat?

MdL Lena Güngör (Linke) vor der JG Stadtmitte. Bild: Martin Michel

Güngör möchte in diesem Zusammenhang nicht allein von lücken- und fehlerhafter Ermittlung sprechen. „Das Problem heißt Rassismus, nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern besonders auch in unseren Systemen,“ sagte sie. Der Befund ist schwer von der Hand zu weisen, wenn man sich vorstellt, wie der Ablauf wohl gewesen wäre, hätte eine solche Attacke weiße Menschen ohne Migrationshintergrund getroffen. In der Warnung vor möglichen Racheakten, die die Angehörigen wie ein Schlag ins Gesicht traf, schwingen viele rassistische Zuschreibungen mit, die gegen migrantische Communities immer wieder lanciert werden, etwa die „Dönermorde“, von denen im Kontext des NSU die Rede war, oder die „Clankriminalität“, die den Rechten vor allem der CDU und AfD zur Profilierung als Law-and-Order-Parteien dient.

„Order“, Ordnung, ist ein wichtiges Stichwort, wenn man in die Geschichte antirassistischer Kämpfe zurückblickt. Sie ist nicht nur ein Vorwand rassistischer Kriminalisierung, der Shishabars hierzulande zu einem beliebten Ziel polizeilicher Übergriffe macht. Sie ist auch schon lange ein Fluchtpunkt weißer Sehnsüchte, wenn sich ethnische Minderheiten politisch behaupten, und sei es nur um der Aufklärung eines rassistischen Anschlags willen. In der weißen Mehrheitsgesellschaft darf Erinnern nicht Verändern heißen, denn Verändern bedroht einen Status quo, von dem man möglicherweise mehr profitiert, als man es sich im Alltag eingestehen möchte. Schon Martin Luther King bekannte in seinem Brief aus dem Gefängnis von Birmingham resigniert, ein „white moderate“ – eine weiße Person, die auf „Versöhnung“ und „Mäßigung“ aus ist – sei wohl ein größeres Hindernis für die Gerechtigkeit schwarzer Menschen als ein Mitglied des Ku Klux Klans. Weil für „Gemäßigte“ Ordnung mehr zählt als Gerechtigkeit, Rassismus allenfalls ein Vorurteil ist. Und wer sich auf eine Ordnung verlassen kann, die für ihn oder sie eingerichtet ist, findet sich auch dazu imstande, in den Folgetagen eines rassistischen Massakers Karneval zu feiern. Für diese Menschen war Hanau „eine Schlagzeile; die Gefahr galt nicht ihnen,“ sagte Güngör am Freitag. „Unser Schmerz ist für sie nicht sichtbar.“

„Erinnerung – Gerechtigkeit – Aufklärung“ – diese Forderungen der Initiative 19. Februar sind also keine rein realpolitischen. Es handelt sich, wie im Fall von Black Lives Matter, um Generationenaufgaben, die nur gegen den Widerstand und die Gleichgültigkeit großer Teile der weißen Mehrheitsbevölkerung zu meistern sind. Überfällig sind die realpolitischen Konsequenzen aus dem Hanau-Desaster in den Ermittlungsbehörden trotzdem, aber machen wir uns nichts vor: Um staatliches „Versagen“ handelt es sich nur, wo der Staat nicht über eine Ordnung wacht, in der „deutsch“ immer noch „weiß“ bedeutet. Dieser Staat handelt höchstens dann im Sinne der Betroffenen, wenn er entweder keine andere Wahl hat oder sich davon erhoffen kann, dass die Sache damit endlich vom Tisch ist. Mit Gerechtigkeit hat das nichts zu tun.

Text: Philipp Janke
Bilder: Martin Michel

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