Mittwoch, April 24

Das „Heim“ im Wort „verheimlichen“: Olivia Wenzel zu Besuch bei der Ernst-Abbe-Bücherei

"1000 Serpentinen Angst" ist der Debütroman der afrodeutschen Autorin Olivia Wenzel. Bild: S. Fischer Verlag

Am Dienstagabend veranstaltete die Ernst-Abbe-Bücherei Jena eine Online-Lesung mit der Autorin Olivia Wenzel, deren Debütroman 1000 Serpentinen Angst letztes Jahr viel Aufsehen erregt und es sogar auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2020 geschafft hatte. Die Lesung war ursprünglich für die Interkulturelle Woche 2020 angedacht gewesen, hatte aber ausfallen müssen. Dass der Termin nachgeholt wurde, bereitete sowohl der Gastgeberin Julia Hauck, Agentin für Diversität und interkulturelle Bibliotheksarbeit, als auch Olivia Wenzel sichtlich Freude. „Das ist meine erste Lesung in Thüringen!“ gab die 1985 in Weimar geborene Autorin bekannt, bevor sie die ersten Passagen vorlas.

Das Buch enthält wie viele Erstlingswerke autobiografische Züge. Es geht darin um die Lebensstationen und Sinnfragen einer jungen afrodeutschen Frau, die in den 80er Jahren im Osten geboren wurde, es geht um Pockennarben und Westbananen. Die weiße Mutter der Frau war in der DDR Punk, die Großmutter eine stolze SED-Anhängerin. Der Bruder suizidierte sich – ein Bruch, der das Verhältnis zwischen den drei Frauengenerationen durchzieht. Die Erfahrungen der Erzählerin kreisen auch um politische Brüche, die sich mit und seit der Wende vollzogen haben. Wenzel vergleicht den autofiktionalen Charakter dieser „Gedankenfetzen“, wie sie die Reflexionen der Protagonistin nennt, mit einem Computerspiel, das auf ihrem Leben basiert: Die Erzählerin sei ein Avatar, dessen Bewegungen bewusst von der Autorin gesteuert würden. Die Lebensrealität ist in Teilen selbst erlebt, in Teilen gefunden und erlesen.

Zur Zeit der Trump-Wahl 2016 befand sich Wenzel in den USA und führte viele Gespräche mit verzweifelten Afro-Amerikaner*innen, die das Aufkeimen eines neuen Weißen Amerika fürchteten. Besonders das Werk Between the World and Me von Ta-Nehisi Coates, das im Zuge der ersten Protestwelle von Black Lives Matter gegen Polizeimorde zum Bestseller geworden war, machte einen großen Eindruck auf die Autorin. Die USA-Reise verarbeitete sie in einem kurzen Text, den die Theaterfrau „ohne Betrieb“, wie sie sagt, also ohne den Austausch mit dem Verlag, wahrscheinlich nicht in die Form eines Romans übertragen hätte. Die formelle Ungebundenheit merke man dem Roman durch seine dialogische, achronologische Struktur an. Sie habe volles Verständnis für Menschen, die kritisieren, „dass dat zu anstrengend ist zu lesen“, gibt Wenzel selbstironisch zu. Die introspektiven, mit der Last des Traumas bepackten Zeilen, die sie ruhig vorliest, lassen vermuten, dass es die Anstrengung wert ist.

Schwarzsein als Ostdeutsche

Die Großmutter, die zu DDR-Zeiten einst Flugbegleiterin werden wollte, beschreibt die Erzählerin als „eine niedliche, runde Frau, knapp über 70, die Flugangst hat und keinen Fahrstuhl betreten kann. Eine Frau, die die Wärme ihres Heizkissens liebt“. Über den Tod des Enkels können die beiden nicht sprechen. Zeugt das Schweigen von einem Geheimnis oder ist es nur Schmerz?

Hast du schon mal über das Wort „Heim“ im Wort „verheimlichen“ nachgedacht oder über das Wort „unheimlich“?

Die Fragen, mit denen die Erzählerin konfrontiert wird, erinnern manchmal an ein Verhör, manchmal an eine Selbstbefragung – ein „Zwiegespräch mit sich selbst“ sagt Wenzel. Wenn die Protagonistin über das Verhältnis zu den anderen Frauen in der Familie nachdenkt, kippt der Dialog ins Politische. Was bedeutet etwa Freizügigkeit für die Nachwendegeneration? Was für eine schwarze Frau? Was bedeutet sie für die Verdammten dieser Erde aus Afrika und dem Nahen Osten, deren „Zwangsreisen“ wenig gemein haben mit den Urlaubsreisen der Schwarzen Diaspora im Globalen Norden?

Bananen und die Arroganz des Westens

Dieses „Leben einer Reisenden, einer Fragenden“ hat offenbar nicht nur in den Feuilletons einen Nerv getroffen, wie Julia Hauck von der Ernst-Abbe-Bücherei feststellt. Sie berichtet von einer großen Nachfrage in der Bibliothek, „nicht nur von den Kindern unserer Generation, sondern durch die Bank weg“. Wenzels post-migrantische Perspektive auf die DDR kann auch ein älteres Publikum sehr berühren, wie sie selbst aus Anekdoten von Freund*innen weiß. Obwohl sie ihren Roman keiner politischen Botschaft unterordnen und nicht auf das Thema Rassismus reduziert sehen möchte, ist sie sich der politischen Bedeutung solcher Interventionen ostdeutscher People of Colour bewusst und positionierte sich im Gespräch gegen das westlich-weiß dominierte Erinnern der DDR-Vergangenheit und der 90er Jahre. Die „Arroganz des Westens“ spiegele sich besonders anschaulich im Symbol der Banane, meint die Autorin: Das Sprachbild ist verzweigt in die Geschichte des Rassismus mit seinen zahlreichen Affenvergleichen, es findet sich in den sexistischen Sprüchen blowjob-geiler Macker und es prägt bis heute das Stereotyp des „Ossis“, der die Mauer angeblich schon allein wegen seines Heißhungers auf tropische Früchte loswerden wollte.

Aber warum ist gerade jetzt der Moment für ein Nachdenken über ostdeutsche Identitäten? Wenzel verweist hier auf einen Austausch, den sie mit Lydia Lierke hatte, Politikwissenschaftlerin und Herausgeberin des Sammelbandes Erinnern stören: Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive (Verbrecher, 2020). Lierke sei der Ansicht, ihr Schreiben über ostdeutsche Identität sei weniger einem speziellen Lebenskapitel geschuldet als der Tatsache, dass es ein Repositorium solcher Überlegungen bislang noch nicht gab. Der Aufwand sei ein größerer und nehme daher schlicht mehr Zeit in Anspruch. Wenzel fügt hinzu, dass sie bei sich selbst lange ein Desinteresse an dieser Aufarbeitungsarbeit beobachten konnte. Als sie zum Studieren in den Westen gegangen und damit die Nazis los war, mit denen sie in ihrer Jugend zu kämpfen hatte, bot ihr das eine Ausflucht. Heute lebt und arbeitet Olivia Wenzel in Berlin. Ihre Beziehung zu ihrer Thüringer Heimat ist bis heute belastet. So transformativ Literatur auch sein kann, vermag sie die Wunden, die sie der Befragung öffnet, also nicht gänzlich zu heilen. Das sollte sie vielleicht aber auch gar nicht.

(pj)

Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst. S. Fischer Verlag, 352 Seiten. 21 Euro. ISBN 978-3-10-397406-5

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