Freitag, April 26

»Mars« von Asja Bakić: Verkehrte Welten

Bild: Kat Love/Unsplash

In einem Online-Persönlichkeitsquiz wurde ich einmal mit einem zermürbenden Gedankenexperiment konfrontiert: Angenommen, die Hälfte aller Schriftzeugnisse, die der Mensch je produziert hat, sollten aus irgendeinem Grund vernichtet werden. Welche Textsorte, fiktiv oder nicht-fiktiv, würde ich wählen? Obwohl es sich hier zugegebenermaßen um ein albernes Szenario handelt, das die subjektive Färbung von Tatsachenberichten vollkommen ignoriert, hat mich die Frage nie ganz losgelassen. Ein Grund dafür ist sicher der, dass Geschichten so viel Wissen über die Menschen und die Gesellschaften, in denen sie gelebt haben, enthalten, dass allein schon dieser Wert den sachlicher Schriften aufwiegen könnte. Mehr noch: Die Fantasie ist manchmal das einzige Mittel, um sich gesellschaftlichen Phänomenen überhaupt erst anzunähern.

Die bosnisch-kroatische Schriftstellerin Asja Bakić steht in genau dieser Tradition. 2015 veröffentlichte sie in Kroatien den Erzählband Mars, den Alida Bremer nun für den Verbrecher-Verlag übersetzt hat. Was man darin zu lesen bekommt, sind mehrheitlich Geschichten über Frauen, die sich an geheimnisvollen und grotesken Orten wiederfinden, deren Wirkungsweise die Protagonist*innen zu ergründen versuchen, ohne ihnen vollkommen ausgeliefert zu sein.

Häufig enthalten diese verkehrten Welten fantastische oder technologisch-spekulative Elemente, jedoch ohne dass das world-building die Geschichte dominiert. Man gewinnt eher den Eindruck, Bakić platziere einen Charakter wie in einem Versuchslabor in einer von ihr erdachten Welt und beobachte, wie sich die beiden innerhalb eines kurzen Zeitraums zueinander verhalten. Ihre Sprache ist direkt und ungeschmückt. Die Schauplätze ihrer Erzählungen sind Wälder und abgelegene Dörfer, Schlafzimmer, ein Kriegsgebiet, eine Zwischenwelt, in die man nach dem Tod gelangt, und der titelgebende ferne Planet. Durch sie streifen Zombies, Doppelgänger, Götter, Verführerinnen, Androide und zwielichtige Ehemänner.

Eine äußerst bunte Mischung, doch ein Leitmotiv lässt sich ausmachen: Die Literatur – und insbesondere das Schreiben – spielt für die Menschen darin eine besondere Rolle. So überträgt Bakić Stereotype über Literatur – etwa als Brücke zwischen den Lebenden und Toten – ins Wörtliche und entwickelt davon ausgehend spekulative Experimente. Literatur ist für Bakić gelebtes Grenzgängertum – beim Schreiben wie beim Lesen, die beide schöpferische Kraft entfalten. Und diese Kraft kann durchaus destruktive und repressive Gestalt annehmen.

Was ist schon eine Dystopie?

Die äußeren Umstände, die Bakić in den zehn Geschichten schildert, sind für die Protagonist*innen zumeist abweisend. Frauen erleben hier Dystopie am eigenen Leib. Zur Verhandlung von Geschlechterfragen eignet sie sich das Stepford-Wife-Motiv der Science Fiction auf clevere Weise an, indem sie aus der dozilen Hausfrau, unter deren Haut sich ein Roboter verbirgt, eine Frau mit schlechtem Gedächtnis macht, die ihrer wahren Identität auf die Schliche kommen muss, während sie in den eigenen vier Wänden von ihrem Ehemann in einer eintönigen täglichen Routine betreut und bewacht wird. Die Geschichte hat einen ähnlichen technologischen Twist, wird aber von der Frau, die für männliche Verfügung geschaffen wurde, selbst erzählt. Sie lädt zur Desorientierung ein.

Obwohl Bakić es versteht, die Leser*in an eine dystopische Welt heranzuführen, beweist sie mit Mars letztlich, wie ungenügend der Begriff der Dystopie ist, wenn sich eine Schriftstellerin neben dem politischen vor allem auf das literarische Unterfangen einlässt, eine Schreckenswelt zu entwerfen. An die Stelle der bekannten Muster Orwell’scher Agitation treten hier feinfühlige, klaustrophobische Miniaturen, die die Leser*in eher grübelnd als geschockt zurücklassen, weil ihr Geschäft nicht das Extrapolieren politischer Trends ist, sondern die Darstellung verfremdeter Wirklichkeit. Manchmal muss man die Welt eben auf den Kopf stellen, um sie klarer sehen zu können.

(pj)

Asja Bakić: Mars. Erzählungen. Aus dem Kroatischen von Alida Bremer. Verbrecher Verlag 2021, 160 Seiten. 20 Euro. ISBN 9783957324740.

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