Montag, Oktober 7

„Ein anderes Anthropozän ist möglich“: Ian Angus mit einem Buch für unsere Zeit

Ian Angus' Buch über das Anthropozän verbindet naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit der sozial-ökologischen Systemfrage. Bild: Unrast Verlag

Im Unrast-Verlag ist im August ein Sachbuch des kanadischen Ökosozialisten Ian Angus erschienen, das den Titel trägt: Im Angesicht des Anthropozäns – Klima und Gesellschaft in der Krise. Wer einen kurzen Blick hineinwirft, dem drängt sich womöglich der Eindruck auf: Marx und Naturwissenschaft? Das mieft nach längst diskreditierten Theorien, die Behauptungen über eine vermeintlich unausweichliche Zukunft der Menschheit aufstellen. Aber weit gefehlt. Angus‘ Buch über die geologische Epoche namens „Anthropozän“, die eine von menschlicher Aktivität überformte Welt kennzeichnet, ist alles andere als eine Reaktivierung alter Dogmen, sondern ein Versuch, den naturwissenschaftlichen Diskurs um ein Verständnis politischer Ökonomie zu bereichern. Und das in weniger als 300 Seiten.

Das Buch ist in drei Teile unterteilt. Der Erste ist eine Skizze der wissenschaftlichen Erkenntnisse um das neue Erdzeitalter, das Mitte des 20. Jahrhunderts geboren wurde und eine neue Qualität der Naturumwälzung durch den Menschen mit sich brachte. Der zweite Teil widmet sich dem fossilen Kapitalismus, setzt das naturwissenschaftliche Wissen also in einen gesellschaftlichen Kontext: Was sind die Triebkräfte der kapitalistischen Produktionsweise? Wieso ist sie, seit sie im 19. Jahrhundert von fossilen Energieträgern abhängig wurde, so stark auf diese angewiesen? Und was genau kennzeichnet eigentlich die Zäsur ab 1945, obwohl doch schon Marx erkannt hatte, dass das Verhältnis des Kapitalismus zur Natur ein ausbeuterisches ist? Im dritten und letzten Teil des Buches geht es schließlich um die ökosozialistische Alternative zu kapitalistischen Verwertungszwängen und Steigerungsspiralen, wie sie naturwissenschaftlich dokumentiert und sozialwissenschaftlich evident sind. Hier wird insbesondere die Frage diskutiert, wie eine gut gewappnete Klimabewegung agieren muss, um zu einer Bewegung der lohnabhängigen Mehrheit zu werden.

Das zuerst 2016 auf Englisch erschienene Buch ist ein wahrhafter Flickenteppich an Zitaten aus der einschlägigen Fachliteratur. Zuweilen artet das in eine Datenflut aus, meistens hat Angus jedoch genau die Textstellen ausgewählt, die die relevanten Erkenntnisse kristallisieren und einordnen. In einem Nachwort zur deutschen Ausgabe aktualisiert er in Kürze den Stand der Erdsystemforschung für 2020. Auch wo er sich historischen und sozialwissenschaftlichen Themen widmet, bleibt er nah an dokumentierten Ereignissen und Trends und verwickelt sich nicht in theoretische Debatten. Christof Mackinger ist in seiner Übersetzung gelungen, die klare Sprache ins Deutsche zu übertragen, weshalb man gelegentliche Schreibfehler und Inkonsistenzen im Layout des Buches gerne verzeiht. Das Ergebnis ist ein Sachbuch, das den Strategiedebattenwinter der Klimabewegung zu bereichern verspricht und allen Interessierten ein Tor zu den Erkenntnissen öffnet, von deren konsequentem Zusammendenken wohl nichts Geringeres als das Schicksal der Menschheit abhängen wird.

Obwohl es sich hier um einen Überblick handelt, der keines der besprochenen Themen erschöpfend behandeln kann, bietet selbst die erste Hälfte doch vieles, das die herkömmlichen Einführungen in die ökologische Krise der Gegenwart nicht leisten. Zum Einen spiegelt das Buch einen geologischen Blickwinkel wider, der in den Beiträgen der deutschsprachigen Wissenschaftsprominenz oft zu kurz kommt. Indem er sich auf die Erdsystemforschung beruft, liest Angus die Umweltproblematik außerdem von vornherein als multiples Phänomen, in dem der drastische Klimawandel nur ein gewichtiger Faktor unter vielen ist, die sich gegenseitig potenzieren. (Wie war das noch einmal genau mit dem Stickstoffkreislauf?) Dabei beschränkt er sich nicht darauf, die Themen einfach nur herunterzubrechen, sondern gibt ganz nebenbei eine Einführung in die relevanten wissenschaftlichen Fachbegriffe, etwa den der planetaren Grenzen und was ihn zum Beispiel von Kipppunkten unterscheidet. Wäre das Buch mit einem Register ausgestattet, so würde es sich also auch als Nachschlagewerk eignen. Wem die Terminologie aber immer noch zu grundlegend ist, kann sich an der Wissenschaftshistorie erfreuen, die sich hinter so einer vermeintlich einfachen Erneuerung wie der Einführung des Anthropozän-Begriffs in die Geologie verbirgt – ein Kapitel, das jeder Annahme spottet, es handele sich dabei nur um ein populärwissenschaftliches Modewort.

Im Angesicht des Anthropozäns kann nicht nur als Mythenkiller für Anti-Alarmist*innen in der Klimafrage glänzen, sondern setzt auch eingeschworenen Linken etwas entgegen, die irrtümlicherweise davon ausgehen, die Rede vom Anthropozän schiebe der Mehrheit der Menschen die Schuld für eine Krise in die Schuhe, die doch in Wahrheit das Werk einer reichen Minderheit ist. Dabei machen sich gerade Pioniere dieser Forschungsrichtung, wie der Chemiker Will Steffen, für die Anerkennung globaler Asymmetrien in der Umweltzerstörung stark. Was sich in Wahrheit hinter der Idee des Anthropozäns verbirgt, ist die genauso simple wie erschreckende Einsicht, dass die neue Periode des Erdsystems von anthropogener Einwirkung bestimmt ist. Damit wird menschliche Aktivität also zum ersten Mal in der Geschichte der Erde überhaupt zu einem gewichtigen Faktor im Wandel geologischer Prozesse, die die Existenz der menschlichen Spezies weit überspannen. Den Gegenvorschlag eines „Kapitalozäns“ kommentiert Ian Angus nüchtern:

Philosoph*innen würden dies einen Kategorienfehler nennen – der Kapitalismus ist ein 600 Jahre altes gesellschaftliches und wirtschaftliches System, während das Anthropozän eine 60 Jahre alte Epoche des Erdsystems ist. Jede ernsthafte Auseinandersetzung mit den Sozial- und Naturwissenschaften wird ergeben, dass der Kapitalismus bereits Hunderte von Jahren existierte, bevor die neue geologische Epoche begann, und dass diese neue Epoche lange über die Dauer des Kapitalismus hinausreichen wird.

Dass der Kapitalismus hier dennoch nicht glimpflich davonkommt, ist selbstverständlich, denn der rote Faden des Buches lautet: „Ein anderes Anthropozän ist möglich.“ Mögen viele Folgen menschlicher Eingriffe in die Natur auch so unumkehrbar wie katastrophal sein, haben wir dennoch die Möglichkeit, zu einer solidarischen Gesellschaft zu gelangen, die der ökologischen Selbstzerfleischung unserer Wirtschaft ein Ende setzt, den Opfern von Katastrophen Hilfe leistet und für überfällige Renaturierung Sorge trägt.

Ein besonderes Verdienst von Angus ist es, nicht bei ökonomischen Gesetzmäßigkeiten zu verweilen und stattdessen die Herausbildung und Entwicklung des sogenannten Goldenen Zeitalters des Kapitalismus im 20. Jahrhundert zu historisieren, das den Grundstein für die heutige Abhängigkeit großer Volkswirtschaften von Kohle, Gas und besonders Erdöl legte – obwohl sein Fokus dabei leider eng auf den USA liegt. Bei der Lektüre wird vor allem deutlich, welche blinde Flecken die junge Klimabewegung hierzulande plagen, die zwar mit aller gegebenen Lautstärke gegen den Fetisch des motorisierten Individualverkehrs ankämpft, sich aber nur vereinzelt zu antimilitaristischen Bekenntnissen durchringt, die für ihre Vision einer nachhaltigen Welt ebenso zentral sein sollten. Vielleicht hat es ja etwas damit zu tun, dass die in gleich mehrerlei Hinsicht tödlichen Militärausgaben aus den Emissionsreduktionszielen des Pariser Klimaabkommens ausgenommen sind? Letzten Endes bedeutet Klimagerechtigkeit also doch weit mehr als der Kampf um die Einhaltung eines völkerrechtlichen Abkommens, obwohl das einige Klimabewegte nur ungern anerkennen wollen.

Auch Angus‘ Abriss der „ersten Beinahe-Katastrophe“ des Anthropozäns in den 1970er Jahren, die durch die industrielle Verwertung der ozonschädigenden Fluorchlorkohlenwasserstoffe (besser bekannt als FCKW) ausgelöst wurde, ist für aktuelle Klimakämpfe äußerst lehrreich und beweist nicht zuletzt die Trägheit der Gesetzgebung in der Abwehr existentieller ökologischer Gefahren. Nur geht aus der Analyse weder hier noch in späteren Kapiteln hervor, wo die strukturellen Ursachen für das unter kapitalistischen Bedingungen notwendige „Staatsversagen“ in der Umweltpolitik liegen. Schließlich ist die Verschränkung von Staat und Kapital weder ein Unfall der Geschichte noch mit einem Verbot von Lobbyismus aus der Welt geschafft – sie gehört zu den Grundbausteinen jedes kapitalistischen Staates, die eine ernstzunehmende Klimabewegung zu den Schlüsselthemen ihrer politischen Bildung und Strategie zählen muss. An einigen Stellen bleiben die letzten Kapitel daher zahmer, als es der Autor vielleicht beabsichtigt hatte.

Welche staatlichen Ausweichmanöver wiederum drohen, wenn der Globale Norden seine Privilegien auf alle Kosten gegen die Folgen der Umweltzerstörung „verteidigen“ will, kritisiert Angus überzeugend. Seine Ausführungen über tödliche Grenzpolitik sind keine Minute gealtert und illustrieren anschaulich, warum Klimaschutz auch ein antifaschistisches Anliegen ist und umgekehrt. Er greift aber nicht nur autoritäre Antworten auf Fluchtmigration an, sondern widerlegt an anderer Stelle auch den damit oft einhergehenden Mythos, die ökologische Krise sei das Ergebnis von Überbevölkerung.

Nun kann man nicht davon ausgehen, dass dieses Buch umfängliche Antworten auf alle dringenden Fragen der Gegenwart gibt, aber gerade die Tatsache, dass diese Übersetzung in Deutschland zur rechten Zeit am rechten Ort erschienen ist, macht es etwas bedauerlich, dass Im Angesicht des Anthropozäns nicht genauer auf die politischen Hürden eingeht, die einem radikalen Umsteuern in der Art und Weise, wie wir produzieren, im Wege stehen. Wäre an die Stelle des ökologischen Maßnahmenkatalogs in den letzten Kapiteln eine Analyse der neoliberalen Wende seit den 1970er Jahren oder etwa der Dreiecksbeziehung zwischen Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus getreten, hätte das ein vollständigeres Bild der Aufgaben ergeben, denen sich sozialistische wie ökologische Bewegungen stellen müssen. Auch die für Einsteiger*innen durchaus wichtige Frage, was Gemeineigentum an Produktionsmitteln genau bedeutet und wie es mit kapitalistischen Imperativen bricht, bleibt weitgehend unbeantwortet.

Trotzdem gelingt es Ian Angus in seiner Einführung zum Anthropozän, fundierte Analysen und wertvolle strategische Anregungen für die ökosozialistische Sache zu formulieren. Sein Anspruch, einem wissenschaftlich interessierten Publikum, das mit der Systemfrage fremdelt, genauso gerecht zu werden wie einer linken Leserschaft, die die Ökologie lieber den Hippies überlässt, ist nicht nur gut gewählt, sondern hat auch Früchte getragen. Dem Buch ist zu wünschen, dass es manchem Appell „Unite behind the science!“ eine neue Schärfe verleihen kann. Allzu oft driftet dieser ab in ein „Hide behind the science“. Angus zeigt mit Marx, wie es anders gehen kann – ein Weckruf für die Klimabewegung und wichtiger Vorstoß für eine besser informierte Linke.

(pj)

Ian Angus: Im Angesicht des Anthropozäns. Klima und Gesellschaft in der Krise. Aus dem Englischen von Christof Mackinger, mit einem Vorwort von Christian Zeller. Unrast Verlag 2020, 259 Seiten. 18 Euro. ISBN 978-3-89771-288-1

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