Donnerstag, April 25

„Thüringer Zustände“: Kooperationsprojekt untersucht faschistische Tendenzen im Freistaat

Neonazis bei einer Versammlung in Eisenach im Juli 2020. Bild: Martin Michel/Libertad Media

Erfurt. Am Dienstagmorgen stellten zentrale Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Institutionen, die sich in Thüringen mit der Verbreitung rechter Gewalt und Gesinnungen beschäftigen, ein neues Kooperationsprojekt vor, das Entwicklungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Jahr 2020 untersucht. Die Autor*innen der knapp 100-seitigen Broschüre „Thüringer Zustände“, die der Zusammenschluss nun publiziert hat, sind EZRA, die Thüringer Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, MOBIT, die mobile Beratung für Demokratie und gegen Rechtsextremismus, KomRex, das Zen­trum für Rechtsextre­mis­mus­for­schung, Demo­kratiebildung und gesell­schaft­liche Integration der FSU Jena sowie das Institut für ­Demokratie und Zivil­gesellschaft Jena (IDZ).

Die Publikation verfolgt das Ziel, eine „faktenbasierte Darstellung und kritische Einordnung der aktuellen Situation des Rechtsextremismus, des Antisemitismus und des Rassismus, der Abwertung, Diskriminierung und Hassgewalt“ im Bundesland zu liefern, diese mit Fokus auf die Betroffenenperspektive zu analysieren und damit als „solide Informations- und Dokumentationsgrundlage“ einer kritischen Öffentlichkeit zu dienen. Der Titel „Thüringer Zustände“ geht auf die von Wilhelm Heitmeyer herausgegebene, zehnbändige Studie „Deutsche Zustände“ zurück, die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland zwischen 2002 und 2011 untersuchte. Auch von der Thüringer Broschüre soll es in den Folgejahren weitere Ausgaben geben.

Kein Einbruch rechter Aktivitäten durch Corona

Romy Arnold vom MOBIT e.V. betonte in der Pressekonferenz, dass sich die Zahlen, die eine Beratungsstelle für Betroffene zu sammeln imstande ist, „eklatant unterscheiden“ von denen der Sicherheitsbehörden. Sie stellte die Bedeutung von Corona im vergangenen Jahr heraus, machte aber deutlich, dass auch 2020 von bereits bekannten Akteur*innen der in Thüringen besonders personenstarken und professionalisierten rechten Szene geprägt war. Der Zuzug führenden Personals aus der neofaschistischen NPD und der Nazi-Kampfgruppe Combat 18 nach Thüringen bezeuge die zentrale Rolle Thüringens in der bundesweiten Vernetzung rechter Organisationen. Die Coronakrise habe letztes Jahr gezeigt, wie anpassungsfähig die Szene sei, meinte Arnold. Ein Einbruch von Aktivitäten sei lediglich in der Rechtsrock-Veranstaltungsszene zu verzeichnen, abgesehen davon hätten sich rechte Strukturen – etwa bei der Nachbarschaftshilfe oder der Vernetzung mit „Querdenken“ – noch neue Tätigkeitsbereiche erschlossen. Im Laufe des Sommers hätten sich Faschist*innen zu Stichwortgeber*innen der Corona-Proteste entwickelt und einige Versammlungen auch selbst angemeldet. Antisemitische Verschwörungsmythen, Morddrohungen an öffentliche Personen und Umsturzfantasien seien in den Kreisen weit verbreitet.

Angriffe sind nur die Spitze des Eisbergs

Franz Zobel von der Beratungsstelle EZRA zog für das vergangene Jahr die Bilanz, „dass die Eskalation insbesondere von rassistischer Gewalt auf einem hohen Niveau bleibt“. 102 Fälle rechter, rassistischer und antisemitischer Angriffe hat die Initiative verzeichnet, von denen mindestens 155 Menschen betroffen waren – ein gefährliches Klima, das seit den Geflüchtetenbewegungen von 2015 unvermindert fortbestehe. Auch ein homofeindlicher Mord sei unter den erfassten Übergriffen. Die Folgen seien dabei nicht nur individuelle Einschüchterung und Traumatisierung, sondern auch eine „kollektive Viktimisierung“, betonte Zobel in Bezug auf den rassistischen Anschlag in Hanau letzten Februar, infolgedessen sich einige Ratsuchende an EZRA gewandt hätten.

Polizeilich erfasste Hasskriminalität geht in Thüringen mehrheitlich von rechtsmotivierten Menschen aus, heißt es im Bericht. Direkte Angriffe, so eine Kernaussage der Artikel, die EZRA zum Projekt „Thüringer Zustände“ beigesteuert hat, seien jedoch „nur die Spitze des Eisbergs“, so Zobel. Für people of colour sei Rassismus eine alltägliche Erfahrung, auf zwischenmenschlicher und institutioneller Ebene. Die Pandemie sei insbesondere mit einer Verschärfung des anti-asiatischen Rassismus einhergegangen. „Die Konsequenzen bekommen meistens nicht die Täter*innen zu spüren in solchen Fällen, sondern die Betroffenen ziehen ihre Konsequenzen,“ etwa indem sie es nach Handgreiflichkeiten in der Stadt künftig vermeiden, sich alleine draußen aufzuhalten. In einem Artikel widmet sich die Autorin Sarah Ulrich zudem rassistischer Polizeigewalt am Beispiel der Polizeiinspektion Weimar.

Verschleppte Strafverfahren

Franz Zobel attestierte dem Freistaat in seiner Stellungnahme „massive Probleme bei der Strafverfolgung von rechtsmotivierten Taten durch Ermittlungsbehörden und Justiz“ und das Fehlen einer „Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und rechter Ideologie auf allen gesellschaftlichen Ebenen“. Die Verurteilung rechter Gewalttaten, wie die vor der Erfurter Staatskanzlei und in Herrenberg letztes Jahr oder der Angriff auf einen syrischen Jugendlichen in einer Erfurter Straßenbahn im April reiche bei Weitem nicht aus: „Es braucht eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den mörderischen Ideologien und es braucht auch Konsequenzen.“

Am Beispiel des Ballstädt-Prozesses, in dem gegen Angeklagte wegen eines Neonazi-Angriffs auf eine Kirmesgesellschaft im Jahr 2014 ermittelt wird, ließen sich die Probleme des rechtsstaatlichen Umgangs mit faschistischer Gewalt illustrieren, meinte Zobel. Er hat die „Verschleppung von Verfahren“ durch die Justiz außerdem bei einem Prozess beobachten können, der einen Angriff der Neonazi-Szene auf Jugendliche in Nordhausen im Jahr 2013 untersuchen sollte und wegen „überlanger Verfahrensdauer“ letztes Jahr eingestellt wurde. Bei zwei Angriffen auf das Autonome Jugendzentrum in Erfurt 2016 und 2017 habe es erst nach viereinhalb Jahren eine Verhandlung gegen die mutmaßlichen Täter*innen gegeben, da diese mehrfach vom Gericht verschoben wurde. „Zeug*innen konnten sich an Details nicht mehr erinnern, was dann dazu geführt hat, dass einer der Täter freigesprochen wurde und ein Verfahren gegen einen Täter eingestellt wurde,“ beklagte Zobel.

AfD-Potential noch nicht ausgeschöpft

Danny Michelsen vom Forschungsprojekt KomRex thematisierte in der Pressekonferenz eine auffallende Stadt-Land-Differenz bei der Verbreitung ethnozentristischer, migrant*innenfeindlicher und antisemitischer Einstellungen, die der Thüringen-Monitor, eine jährliche repräsentative Umfrage der FSU, erfasst hatte. Das Verbreitungsniveau sei dennoch flächendeckend hoch, zum Beispiel bei 40% Zustimmung zu ethnozentristischem Gedankengut, also dem Glauben an die Überlegenheit des eigenen „Volkes“.

Die Daten zeigen, dass es die üblichen Merkmale sind, die diese Einstellungen auf der Individualebene begünstigen, also eher geringe formale Bildung, damit einhergehende Statusverlustangst, relative Deprivation, soziale Dominanzorientierung.

Geläufige Erklärungsfaktoren in der Forschung laut Michelsen. Er hat sich in seinem Beitrag gemeinsam mit Felix Steiner vom MOBIT e.V. die faschistische Ausrichtung des hiesigen AfD-Landesverbandes angesehen. Keine Wähler*in könne heute noch behaupten, diese Ausrichtung in Personal wie Programmatik sei ihr nicht bekannt gewesen, resümierte Michelsen. Er warnte mit Blick auf die Verbreitung ethnozentristischer Ideologie, niemand solle sich „der Illusion hingeben, das Wählerpotential der AfD in Thüringen sei bereits ausgeschöpft.“

Gegen das „Verstummen“ der Betroffenen

Axel Salheiser vom IDZ kritisierte die Trägheit politischer Verantwortungsträger*innen und stellte damit unter Beweis, wie wichtig die Betroffenen- und Forschendenperspektive, die der Bericht verkörpert, in der politischen Zielfindung ist. Die Enquete-Kommission Rassismus und Diskriminierung, die nach dem NSU-Untersuchungsausschuss im Landtag eingesetzt wurde, habe noch nicht ausreichend Früchte getragen. So blieben zentrale Forderungen zivilgesellschaftlicher Akteur*innen ungehört, zum Beispiel die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle zu rassistischer Polizeigewalt und racial profiling – eine Behörde, die der Bericht für „unabdingbar“ erklärt. Auch an politischen Lösungen für besonders im Internet virulente Hassrede mangele es. Laut einer im Bericht aufgeführten Befragung sei mehr als jede dritte Thüringer Nutzer*in bereits Zeug*in von hate speech geworden, sieben Prozent seien selbst betroffen gewesen. Solche Erfahrungen, die besonders viele Menschen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren betrifft, führten häufig dazu, dass Menschen „verstummen“, so Salheiser. Anfeindung aufgrund von Sexualität, Aussehen, politischer Einstellung – „das ist nicht einfach Mobbing, sondern auch eine Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“.

Antisemitismus, das zeigt der Bericht auch, ist kein „importiertes Problem“, wie manchmal von Konservativen und Faschist*innen gleichermaßen behauptet wird. Besonders geschichtsrevisionistische Äußerungen, Sachbeschädigungen von Holocaust-Gedenkorten und Störungen von Gedenkveranstaltungen seien auffallend. Es brauche nicht nur politische Antworten, „sondern auch ein stärkeres Engagement als jemals zuvor“, mahnte Salheiser.

(pj)

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